30. Mai
Fredrikstad – Horten
79 Kilometer
Tilly und ich verabschieden uns am morgen, sie hat noch einige Erledigungen in Fredrikstad vor und für mich geht es jetzt wieder zur gewohnten Zeit auf die Strecke: Das heißt heute erstmal mit der Fähre ins Zentrum von Fredrikstad. Wieder versuche ich aktuelles Kartenmaterial zu ergattern, erfolglos – nach der Buchhandlung werde ich von einem Norweger persönlich zum Rathaus geleitet, aber auch die Dame dort schüttelt den Kopf. Zum Glück habe ich aber noch von meinem Vater einen Radführer bekommen, der ist zwar über 15 Jahre alt, aber besser als nix. Es fährt sich wieder prima, allein fahre ich schon fast 30 Kilometer, bevor ich die erste Pause im Schatten einlege, auch heute ist es wieder heiß! Danach fordert mir der Weg nochmal einiges ab. Wieder eine Schotterpiste, schwer befahrbar mit beladenem Rad, ein Teilstück führt durch einen Wald, hier wäre Wanderweg die bessere Bezeichnung, so werde ich schön durchgeschüttelt, als ich über die zahlreichen Wurzeln brettere. So dauert das Vorankommen natürlich wesentlich länger als angenommen. Und auch die warmen Temperaturen machen es nicht weniger anstrengend. Kurz vor Moss neigt sich mein Wasservorrat dem Ende entgegen, das passiert mir eigentlich nie. Auf der Fähre gibt es dann erstmal ein Eis und eine Cola und ich schaue mir die genaue Lage meiner Warmshowers-Unterkunft heute an, Horten stand im Profil, aber es sind doch glatte 20 Kilometer weiter! Puh, ich glaube, das wäre mir heute zu viel des guten und ich sage schweren Herzens ab, suche mir einen Supermarkt und kaufe für mein Abendessen ein. Der nächste Campingplatz ist zum Glück nicht weit entfernt. Nachdem ich alles Wichtige erledigt habe, gehe ich noch zum Strand. Obwohl es bereits nach 20 Uhr ist, herrschen hier italienische Verhältnisse, alle genießen die warmen Temperaturen, dolce vita!
Als ich zurück zu meinem Zeltplatz komme, ist mein Lager verwüstet. Ich fühle mich inzwischen so sicher, dass ich sogar mein Geld plus Kredikarte und Ausweis nicht mitgenommen habe. Mein erster Griff geht also in die Tasche zum Portemonnaie, alles noch da, aber meine eben getätigten Einkäufe waren Ziel der Begierde, mein Skyr hat zwei Löcher und die Tüte da vorn, da war doch … ja, mein Brot drin, vom Inhalt ist aber nix mehr übrig. Ein Blick an den Himmel entlarvt die Lösung, den Möwen wird es hoffentlich geschmeckt haben.
Ich bin gerade dabei, mein Tagebuch zu schreiben, als Tilly vor mir steht, sie hat auch heute den einfacheren Weg mit wesenltich weniger Kilometern gewählt und schwärmt davon, wie gut es sich heute fahren ließ. Mir hingegen steckt der Tag heute sprichwörtlich in den Knochen.
31. Mai
Horten – Granholmen
54 Kilometer (inklusive Fährüberfahrten)
Wieder verabschieden sich Tilly und ich am morgen, sie macht sich heute ein wenig früher als ich auf den Weg. Als sie gestern ankam, war die Rezeption schon lange nicht mehr besetzt und sie hat quasi als blinder Passagier übernachtet. Auf der Strecke entdecke ich sie jedoch nicht, wahrscheinlich hat sie zielsicher erstmal das nächste Cafe aufgesucht. Heute bin ich cleverer als gestern und umfahre die Schotterstraßen. Normalerweise bin ich ein großer Freund des schönsten Weges, aber alles hat seine Grenzen und das Fahren soll ja auch noch ein wenig Spaß machen. Die ständigen Anstiege reichen mir als Anstrengung vollkommen. Heute gibt es zwei Varianten, geplant hatte ich den Landweg, bei dem ich auf der sicheren Seite und auf keine Fähre angewiesen bin. Doch als dann “Ole 3“ vor mir steht, kann ich nicht wiederstehen. Es folgt die angeblich kürzeste Fährüberfahrt in Norwegen. Auf der Suche nach Tagesproviant falle auch ich, wie mein Vater fast 20 Jahre zuvor, auf einen Baumarkt rein, hier gibt es wohl keine Banane zu kaufen. Doch nur wenige Meter später werde ich bei einem SPAR fündig.
Weiter geht es über Notteroy bis zum nächsten Fähranleger. Über Mittag setzt eine Fähre aus, also kann auch ich eine großzügige Mittagspause einlegen. Als der Fährmann dann eintrifft, frage ich ihn, ob die Fähre bis Engo fährt? Der Fahrplan war in dieser Hinsicht nicht eindeutig. „Sprechen Sie deutsch?“ Ja, das tue ich und er erklärt mir in bestem Deutsch, dass die Fähre nur bis zur Insel Veierland und von dort wieder zurück fährt. „Wenn man weiter möchte, muss man das vorher anmelden, steht auch hier auf dem Plan.“ Er deutet auf einen Hinweis in rot, wegen mangelnder Norwegisch-Kentnisse konnte ich das nicht entziffern. „Wollen Sie da hin?“ Ich nicke. „Dann machen wir das!“ „Wirklich?“, frage ich hoffnungsvoll. Er nickt. „Ja, ich habe Zeit, das kann ich machen.“ Ich bedanke mich überschwänglich. Nachdem auch ein kleiner Bagger Platz auf der Fähre gefunden hat, fahren wir los und ich genieße die Fahrt in vollen Zügen, die Landschaft ist herrlich, das Wetter ebenso und ich freu mich einfach, meine Tour fortsetzen zu können und genieße den Augenblick.
Als ich wieder festen Boden unter den Füßen beziehungsweise unter den Reifen habe, geht es durch Sandefjord. Trotz offener Geschäfte wirkt die Innenstadt wie ausgestorben. Ich entscheide mich gegen das Walmuseum und beschließe den Campingplatz aufzusuchen. Der liegt wunderschön auf der Halbinsel Granholmen. Nach einem kurzen Rundgang beschließe ich für zwei Nächte zu bleiben, ein Ruhetag ist eh mal wieder fällig und es gibt herrlich viele ruhige Plätze auf Steinen direkt am Wasser.
2. Juni
Granholmen – Eidanger
71 Kilometer
Der Ruhetag hat gut getan, auch wenn das Hähnchen mit Kartoffelgratin, bei dem ich gestern im Supermarkt nicht vorbeigehen konnte, mir heute ein uzzeliges Gefühl im Bauch bescheren. Aber ich hab wieder wesentlich mehr Spaß am Fahren und meinen Beinen hat die Pause auch gut getan. Da ich meinen Brennspiritus bisher nicht einmal gebraucht habe, hinterlasse ich die Flasche am Campingplatz, ein Kilo weniger Gewicht! Trotz immer wiederkehrenden Steigungen fliegen auch heute die Kilometer nur so dahin, ich spekuliere auf die Fähre in Helgeroa, am Hafen angekommen ist von einem Fähranleger nix zu sehen. Ein junges Paar kann mir auch nicht weiterhelfen. Dafür erfahre ich im nächsten Restaurant, dass die Fähre erst ab Mitte Juni fährt, da bin ich wohl zu zeitig dran und muss nun doch den Landweg nehmen. Gestern hatte ich mir bereits einen Campingplatz ausgekuckt, aber es ist noch so früh und ich mag gern noch weiterfahren, auch wenn ich weiß, dass die Übernachtungsmöglichkeiten von nun an wesentlich seltener werden. Vielleicht hätte ich lieber noch einen Blick auf das Höhenprofil werfen sollen, das fällt mir aber leider erst ein, als ich schon diverse Höhenmeter und 10 Kilometer weggestrampelt habe. Jetzt bin ich doch ein wenig müde, sehe aber, dass noch ein sehr langer und kräftiger Anstieg folgt. Zum Glück liegt noch ein Supermarkt auf dem Weg und ich kann noch eine Pause machen und treffe auf ein holländisches Ehepaar, das erst seit gestern unterwegs ist und es in den nächsten drei bis vier Wochen nach Bergen schaffen möchte. Sie wollen heute nur noch bis zum nächsten Campingplatz, ich bin noch nicht sicher, bis Brevik wäre schon schön, ich spekuliere auf einen Campingplatz auf einer Insel, denn der nächste Campingplatz war nicht so gut bewertet, ohne jetzt die Details zu kennen. Doch die wieder warmen Temperaturen und der wirklich anstrengende Anstieg mit den bereits absolvierten Höhenmetern vorher zwingen mich in die Knie. Bei der Abzweigung, die zum Campingplatz führt, treffe ich die Holländer wieder und kann ihnen bestätigen, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden. Geimeinsam erreichen wir den Campingplatz. Alles fein soweit, nur eine Küche suche ich vergebens. Und tatsächlich, kaum habe ich mich nach drei Wochen meines Spirituses entledigt, bräuchte ich ihn genau heute zum ersten mal. So bleibt es bei kalter Küche, auch wenn mir die Holländer um 20 Uhr noch einen Kaffee anbieten, aber das ist mir zu spät, zu sehr freue ich mich heute auf erholsamen Schlaf. Denn dieses mal habe ich für die morgige Tour bereits aufs Höhenprofil geschaut, und das geht wieder munter auf und ab.
3. Juni
Eidanger – Orvik
75 Kilometer
Bestimmte Fehler macht man wohl nur einmal, so zum Beispiel sein Zelt mit dem Kopfende direkt zur Straße hin aufzubauen. Dementsprechend bescheiden war meine Nacht, da ich bei jedem Auto das Gefühl hatte, es würde durch meinen Kopf durchrauschen. Komisch nur, dass mir das gestern Abend während ich gelesen habe, nicht aufgefallen ist. Aber egal, heute ist ja ein neuer Tag und ich bin wieder voller Tatendrang. Als ich ein paar Kilometer geradelt bin, bin ich sehr froh, gestern nicht noch weitergefahren zu sein. Denn mit frischen Beinen fahren sich die etlichen Anstiege ein wenig leichter. Meine Sorge, ob ich an einem Sonntag einen geöffneten Supermarkt finden werde, erweist sich als unbegründet und so gibt es schon bald eine erste Pause mit Teilchen und Eiscafe aus dem Tetrapack. Bei Brevik passiert man eine imposante Brücke, den Anstieg bis dort hin finde ich ebenso imposant und ich frage mich kurz, ob es vielleicht einen Aufzug gegeben hätte? Nein, wohl eher nicht! Rund um Langesund geht es an einem Fjord entlang und lässt sich prima fahren. Da genießt man die ebene Strecke und das rasche Vorankommen umso mehr. Wieder passiere ich wunderschön gelegene Campingplätze, aber ich hab erst 40 Kilometer auf dem Tacho und ein anvisiertes Tagesziel inkluusive Fährüberfahrt. Das sind noch 30 Kilometer, die Fähre geht um 16:45, also locker zu schaffen. Doch ich mache noch immer den Fehler in Kilometern zu denken ohne zu beachten, wie viel An- und Abstiege folgen. Dazu kommen Temperaturen um die 30 Grad, Hitzerekord in Norwegen, gibt es alle paar 100 Jahre und ich bin mittendrin – im Berg. Die Landschaft ist wunderschön, genießen kann ich jedoch nicht, zu sehr bin ich am Kämpfen. Anstieg – Abfahrt, Anstieg – Abfahrt, so geht es die ganze Zeit. Höhenmeter um Höhenmeter wandert auf meinen Zähler, erstmals vierstellig heute. Reicht mir vollkommen. Einen letzten Supermarkt nehme ich zwecks Abendproviant noch mit, dann erreiche ich über eine Stunde vor Abfahrt den Fähranleger. Ich darf aber dank der freundlichen Dame schon mit auf die Fähre, die erst noch zwei andere Inseln ansteuert. „Oben gibt es ein Bistro, da bekommst Du kalte Cola oder ein Eis!“. Ein guter Hinweis, ich genieße die Fahrt an Deck mit Eis und merke, dass meine Beine heute sehr geschafft sind. Aber jetzt bin ich ja bald da, nur noch zum Campingplatz, den Gedanken, dass da was schief gehen könnte, lasse ich nicht zu – auch nicht, als kein Hinweisschild nach Verlassen der Fähre auftaucht. Die anstehenden 4 Kilometer sind dann auch nicht eben und während ich mich noch mit Tempo in der Abfahrt befinde, brülle jedem sichtbaren neuen Anstieg zu „Dich mache ich fertig!“, „Dich auch!“, „Und dich schaffe ich auch noch!“. Als ich dann das ersehnte Schild entdecke, dass der nächste Campingplatz noch 1 Kilometer entfernt ist, bejubel ich das laut. Doch als ich dann endlich dort bin, ist die Rezeption verrammelt und dicht. Doch es gibt Menschen auf dem Platz, immerhin, den erstbesten frage ich, was los ist. „It is still closed, the season will start mid of June.“ Auf meinen entgeisterten Gesichtsausdruck erwidert er: „But you can stay here“, und versichtert mir auch, dass Toiletten und Duschen zugänglich sind. Es gibt zwar keine Möglichkeit zum Kochen, aber das werde ich überleben, auf gar keinen Fall will ich heute nur noch einen Kilometer geschweige denn einen Höhenmeter zurücklegen. Bei meinem Rundgang auf dem Platz entdecke ich einen anderen Radler, der sein Zelt bereits aufgebaut hat und den ich in seinem Nickerchen störe. Bei meinem Anblick sagt er nur „I know exactly where you came from!“. Les, eigentlich Schotte, hat seinen Leben Job in Australien gekündigt, alles verkauft, seine Freundin mit Sohn zurück gelassen, um diese Tour zu machen. Auch er ist wie so viele andere, auf die ich treffe, seit zwei Monaten unterwegs. Er freut sich sichtlich über meine Gesellschaft, und ich bin super dankbar, dass ich mir später mit seinem Kocher was Warmes zu essen machen kann. Nach so einem anstrengenden Tag tut es so gut, vernünftig zu essen und ich kann kaum glauben, dass ich die Riesenportion mit Couscous, Paprika und Zuckerschoten wirklich bis auf den letzten Krümel verputze. Les kommt genaus aus der Richtung, in die ich fahre und kann mir schonmal sagen, dass der Weg nicht weniger anstrengend sein wird als heute. Und im Laufe des Abends sagt er ein paar sehr simple Worte, die mich aber noch lange beschäftigen werden: „You are here for a good time, not for a hard time!“ Ich weiß, wie recht er hat. Tilly hatte mir einiges voraus, was entspanntes Reisen angeht. Ich habe meine Etappen alle vorgeplant … mit Excel! Und ich merke, wie sehr ich noch im Arbeitsmodus bin. Die gesamten letzten 12 Jahre waren davon geprägt, Termine einzuhalten, die unrealistisch waren, Zahlen zu erfüllen, die eigentlich nicht möglich waren und ich war immer vorn mit dabei, hab andere motiviert, hab immer mein Bestes gegeben. Und jetzt mache ich genau das gleiche, starre auf die Kilometeranzeige, hab mir für jeden Tag ein Ziel gesetzt, komme, was da wolle. Warum? Und was noch schlimmer ist, ich mache es auf Kosten des Genusses. Sind bisher die Länder nicht mehr oder weniger dahin gerauscht? Hauptsache weiter. Mit dem festen Entschluss, es ab jetzt enspannter angehen zu lassen, schlafe ich ein.
4. Juni
Orvik – Sorlandet
47 Kilometer
Der Tag könnte nicht besser beginnen, denn Les bringt mir heißen Kaffee und Orangenschnitze ans Zelt. Er bricht dann auch bald aus, während ich es heute wörtlich mal entspannt angehen lasse. Würden wir nicht in unterschiedliche Richtungen fahren, hätten wir bestimmt noch ein paar Kilometer gemeinsam absolviert. Für mich geht es nun 20 Kilometer von Stabbestad bis Oysang, bevor die nächste Fähre ansteht, inklusive Pause am Supermarkt mit Eiskaffee und Pekanusstasche. Im Internet habe ich nichts über den Fährplan herausbekommen, wird schon klappen und laut Plan am Anleger geht die nächste Fähre um 14 Uhr, perfekt also, um erstmal eine großzügige Mittagspause einzulegen. Als einziger Passagier besteige ich samt Rad die älteste Fähre Norwegens, die noch komplett aus Holz gebaut ist und genieße auch diese Überfahrt in vollen Zügen. Es macht einfach nur Spaß, sich durch diese traumhafte Gegend fahren zu lassen, ohne selbst etwas tun zu müssen. Wieder auf festem Boden geht es munter auf und ab. Der Campingplatz, den ich heute anvisiert habe, besticht durch sehr gute Bewertungen im Netz. Er liegt etwa sechs Kilometer abseits von meiner Route und hält auch noch ein paar Höhenmeter bereit. Den letzten Supermarkt nehme ich noch mit, in der Hoffnung heute wieder auf einem Herd kochen zu können. Dann folgt noch ein letzter, wenn auch sehr knackiger Anstieg. Da die Rezeption noch nicht besetzt ist, inspiziere ich erstmal das Gelände, alles tiptop, von einer Küche aber keine Spur. Eben im Supermarkt hatte ich den Brennspiritus schon in der Hand, hab mich dann aber doch gegen einen Kauf entschieden, denn die Zeit in Norwegen neigt sich in schon bald dem Ende entgegen. Hilft ja nix, dann muss ich eben noch einmal runter zum Supermarkt. Nachdem ich mein Zelt aufgebaut habe, ist auch die Rezeption besetzt, zu meiner großen Freude gibt es auch hier Spiritus zu kaufen und dann erfahre ich, dass es sogar eine Küche gibt, im zweiten Stock über den Duschen, das war mir entgangen, also hat sich meine Kaufabsicht direkt wieder erledigt.
Während ich meinen Pulverkaffee genieße, dringen deutsche Töne an mein Ohr. Schon bald komme ich mit den Menschen in den Wohnwagen um mich herum ins Gespräch und erfahre, dass sie mich auf einem der Anstiege mit dem Auto überholt haben. Tische und Stühle werden hin- und hergetragen und ein wenig neidisch sehe ich von oben zu, wie auch der Grill angeworfen wird. Auf so eine Bratwurst hätte ich auch große Lust. Mit kurze Zeit später kommt eine der Damen mit einer Portion Salat zu mir: „Ein paar Vitamine für die Radlerin, ich weiß nicht, ob du das magst, wenn nicht, lass es einfach übrig.“ Ich mag das alles und lasse nix übrig! Nachdem ich meine Zutaten für mein Essen heute abend alle zusammen gesammelt habe, höre ich es von unten rufen: „Es sind noch Bratwürste übrig, magst du eine?“ Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und werde fürstlich bewirtet mit Bratwurst, Bier, Kartoffel- und Gurkensalat. Die drei Ehepaare sind hier Dauercamper und sagen, dass es der schönste Platz der Region sei. Mir bleibt kurz die Sprache weg, als es zum Nachtisch noch ein Eis gibt, das ist gerade Luxus pur für mich, mit roter Grütze, Sahne, Eierlikör und Schokostreußeln. „Hilft ja nix, davon muss ich jetzt ein Foto machen.“
Der Abend gestaltet sich dank diverser Anekdoten aus Norwegen, die Olga zum Besen gibt, sehr unterhaltsam.
Nachdem ich noch reichlich mit einem halben Liter Brennspiritus, Lübecker Marzipan, Knoppers und Kartenmaterial beschenkt worden bin, bin ich überwältigt von so viel Gastfreund- und Hilfsbereitschaft und schlafe seelig mit einem großen Eis im Bauch ein.
5. Juni
Sorlandet – Sjoverstoveien
53 Kilometer
Die Nacht war stürmisch, das erste mal und ich habe nicht ganz so fest schlafen können. Dafür sind die Temperaturen gefallen und ich mache mich erstmals seit längerer Zeit wieder in langer Körperbeckung auf den Weg. Die heutige Etappe könnte nicht schöner sein, ich kann gar nicht so oft anhalten, wie sich schöne Fotomotive bieten. Auch heute bleibt der Weg hügelig, aber bei so mäßigen Temperaturen ist das nur halb so anstrengend. Die Mittagspause verbringe ich in Tvedestrand, doch am Hafen ist alles zu. Von einer badenden Norwegerin erfahre ich, dass Montags Ruhetag ist, außerdem habe die Saison noch nicht begonnen. Aber ich hab auch genug dabei, um ein kleines Picknick zu machen. Die nächste Rast folgt bereits in Naresto, hier liegt ein Supermarkt samt netter Bank und Wifi direkt an einem Fluss und mein Tagesziel für heute ist schon bald erreicht. Ich habe in der Tat dazu gelernt und mache dann nicht noch 30 Kilometer extra. Dieser Weg will genossen werden, dass haben mir die letzten Tage sehr deutlich gezeigt, da fahre ich lieber noch ein paar kleine Umwege, so auch heute. Zur Belohnung winkt ein Zeltplatz mit einmaliger Aussicht hoch über einem See, den ich exklusiv vom Besitzer zugewiesen bekomme. Ich glaube mich schon allein, da treffen später am Abend noch die beiden Holländer ein, die mich herzlich von Les grüßen. Auch heute habe ich einen Herd, den ich nutzen kann und erfahre dabei, dass offenes Feuer derzeit in Norwegen wegen akuter Waldbrandgefahr verboten ist – dabei wäre ich ja jetzt wieder dank der Camper aus Deutschland mit Spiritus versorgt.
6. Juni
Sjovestoveien – Tromaya
32 Kilometer
Diese Nacht war wohl die ruhigste, die ich je auf einem Zeltplatz hatte, nicht mal nachts raus musste ich und hab bis morgens durchgeratzt. Für heute hab ich ein Plätzchen auf einer Insel vor Arendal im Auge, doch dann fährt es sich so prima, dass ich noch weiter fahren machte, allerdings nicht ohne vorher die Touri-Info aufzusuchen. Als ich gerade suchend am Hafen stehe, spricht mit ein älterer Mann an und klassifiziert mich wegen meiner Ortlieb-Taschen direkt als Deutsche. Er ist in vollem Radleroutfit unterwegs und als ich ihm sage, dass ich eigentlich auf diese Insel da drüben wollte, sagt er: „You should go there, it is one of the beautifulst places that I know. Otherwise you would miss something!“ Wir verstehen uns auf Anhieb prima und so lasse ich mich gern noch auf einen Kaffee einladen, zu dem sich auch ein Verkehrspolizist gesellt, der sehr gut deutsch kann. „Ein deutscher Tourist!“, werde ich begrüßt und erfahre, dass der Polizist ein großer Fan von Derrick ist. Dann muss er jedoch wieder arbeiten. Ich erzähle Oywind ein wenig von mir, und davon, wie schwer es mir fällt, es ruhiger angehen zu lassen und dass ich mich gefühlt noch immer in einer Tretmühle befinde und er legt mir nochmal den Platz auf der Insel ans Herz. Warum nicht, ich habe ja Zeit ohne Ende. Und mit so einer Reise früher fertig zu sein, hat lass auch keinen Sinn. Nachdem mich Oywind bei der Touri-Info (auch hier kein befriedigendes Kartenmaterial für Radler, ich liebäugel inzwischen damit, noch weiter zu fahren) abgesetzt hat, verabschieden wir uns. Da er aber heute auch noch einen Ausflug auf die Insel vorhat, ist es nicht so unwahrscheinlich, dass wir uns wiedertreffen. Ich mache noch eine entspannte Mittagspause in Arendal und begebe mich dann auf den Weg zurück um die Insel anzusteuern. Prompt kommen mit die Holländer entgegen und ich erkläre ihnen, warum ich in die „falsche“ Richtung fahre. Der Zeltplatz liegt in der Tat wunderschön und gerade als ich mein Rad entlade, entdecke ich Oywind. Er hilft mir, einen schönen Platz für mein Zelt zu finden, während ein Einhörnchen hin und her wuselt und offensichtlich daran interessiert ist, wer sich da in sein Revier reingeschummelt hat. Mit dem Versprechen, mir morgen selbstgemachten traditionellen norwegischen Kuchen vorbeizubringen, verabschiedet sich Oyvind. Ich habe nun genügend Zeit, die Gegend zu erkunden, auch wenn sich „satt“ sehen wohl kaum möglich ist, so schön ist es hier.
7. Juni
Ich beginne meinen Ruhetag mit einem ausgiebigen Frühstück und das Eichhörnchen bekommt eine Nuss von meinem Müsli ab. Bei einem Spaziergang kann ich verstehen, warum Oyvind mir die Insel empfohlen hat, es gibt so viele schöne Ecken. Pünktlich zum Nachmittag kommt er dann tatsächlich mit selbst gebackenem Kuchen und frischem Kaffee in der Termoskanne. Wir plaudern und genießen die Zeit und ich bekomme einen kleinen Eindruck, wie das norgwegische Volk tickt unf warum man die Dänen lieber mag, als die Schweden. Währendessen baut eine Großfamilie (am nächsten Tag zähle ich ungelogen 11 Kinder!) ihr Zeltlager vor meinem Zelt auf, was Oyvind mit einem trockenen „I hope you will enjoy the show tonight!“ kommentiert.
8. Juni
Tromoya – Lillesand
58 Kilometer
Die Nacht war erstaunlich ruhig, die norwegischen Kinder scheinen wesentlich ausgeglichener als die deutschen zu sein und als ich meine Sachen packe, packt auch die Großfamilie. Mit so vielen kleinen Menschen unterwegs zu sein und dann noch so entspannt und ruhig, davor kann ich nur meinen Hut ziehen. Bei mir läuft es wieder wie geschmiert, diese Ruhetage bewirken Wunder auf meine Beine, der Wind kommt mal wieder von hinten und es macht mächtig Spaß zu fahren. Nach 30 Kilometern lege ich meine Mittagspause am Hafen von Grimstad ein. Danach teilt sich der Weg und mit mir biegt ein deutsches Radlerpärchen Richtung Lillesand ab. Da wir beide stoppen, um zu überprüfen, ob wir richtig sind, kommen wir ins Gespräch, sie wollen nach Grimstad, da komme ich ja gerade her und kann ihnen sagen, wo es lang geht. Sie sind aus Lillehammer gekommen und über eine Schotterpiste gefahren, die selbst mit ihren e-bikes nicht machbar war. Und ich vermute, dieser Abzweig nach Lillesand ist die südliche Variante ohne Schotter. Der Mann sagt noch: „Ja, aber da fährt man dann ja die ganze Zeit an der Straße!“. Ich gehe das Wagnis ein, gegen Straße hab ich weniger einzuwenden als gegen Schotter. Und auf dem Weg später stelle ich fest, dass man viel schöner kaum fahren kann, es gibt oft einen Radstreifen und der Verkehr ist auch sehr spärlich, das mag an der Autobahn Richtung Kristiansand liegen, die auf meiner Karte noch gar nicht auftaucht. Und gerade als ich denke, schöner kann es nicht sein, wird es das doch! An einem riesigen türkisfarbenen See lassen es sich Jugenliche gut gehen und genießen den außergewöhnlichen norwegischen Sommer, indem sie von den zahlreichen Felsen ins Wasser springen. Ich erreiche viel früher und entspannter Lillesand als angenommen und genieße den freien Nachmittag mit Einkäufen und lesen. Abends treffe ich noch auf zwei Radlerinnen aus Kiel, die übermorgen die Fähre von Kristiansand nehmen wollen. Stolz zeigen Sie mir ihr Kartenmaterial, was aus einzelnen Kartenblättern besteht und alle wichtigen Informationen wie Sehenswürdigkeiten, Übernachtungsmöglichkeiten oder Angaben von Höhenmetern bereit hält. Und auch sie erzählen regelrechte Horrorszenarien von der Schotterpiste. Zu zweit mussten sie die Räder das hoch hiefen. Dem Schotter hab ich dann wohl heute ein Schnippchen geschlagen.
9. Juni
Lillesand – Kristiansand / Hollen
73 Kilometer
Die ganzen letzten Tage hab ich mich mit der Frage gequält, ob ich wirklich jetzt in Kristiansand wie ursprünglich von mir geplant aufhören soll. Aber es ist so schön hier und irgendwie hab ich das Gefühl, mit Norwegen noch nicht fertig zu sein. Und ich kann ja tun und und lassen, was ich will. Ich lege erstmal einen Stopp beim Bäcker ein und erstehe das womöglich leckerste Puddingteilchen der Welt. Als ich das feststelle, bin ich jedoch bereits ein paar Kilometer geradelt und kann es dem Bäcker nicht mehr sagen. Das Wetter ist bedeckt und ein wenig schwül. Direkt am Ortsausgang von Lillesand treffe ich auf eine gesperrte Straße, hier sollte eigentlich meine Route lang führen, ich versuche sie zu umfahren und habe tatsächlich Glück und schon bald bin ich wieder da wo ich laut roter Linie auf meinem Garmin auch sein soll. Die Steigungen heute sind sehr sanft und so erreiche ich schon kurze Zeit später Birkeland. Da es bis Kristiansand nicht mehr weit ist, nehme ich mir Zeit und möchte das Zentrum erkunden, aber hier gibt es nicht viel zu sehen, also geht es wieder zurück auf die Strecke. Es geht durch eine herrliche Landschaft, heute mal nicht an der Küste, sondern durchs grüne und mit Wäldern übersähte Land. Ich komme an einer Ralleystrecke vorbei und heute scheint hier irgendwas los zu sein, denn es haben sich bereits zahlreiche Zuschauer hinter Gitterabsperrungen eingefunden und gerade macht sich ein Tross von Fahrzeugen auf den Weg. Ich schieße nur kurz ein Foto, dann setze ich meine eigene Ralley fort. Kurz vor Kristiansand sammel ich auf dem Radweg noch ein paar zusätzliche Höhenmeter und beim Einfahren in die Stadt macht sich dann ein Glücksgefühl breit, mit dem ich garnicht gerechnet hätte. Ich erinnere mich noch, wie ich Tilde in Dänemark meinen ersten Teil der Route bis Kristiansand gezeigt habe, und der Weg wirkte soooo lang. Und nun bin ich wirklich da! Naja, fast, denn bis zum Zentrum fahre ich noch ein paar Schlenker, da ich mich auf die Ausschilderung verlassen, das klappt nur so mittelmäßig.
Inzwischen bin ich fest entschlossen, den Weg in Norwegen fortzusetzen und suche erstmal die Touri-Info auf. Wenn es hier kein Kartenmaterial füre den Weg nach Norwegen gibt, dann weiß ich auch nicht. Doch ich stehe vor verschlossenen Türen, die hat erst am Montag wieder auf und am Wochenende geschlossen, na prima. Nachdem ich mein Glück noch in einer Buchhandlung, einem Outdoorladen und zwischendrin noch von einer christlichen Missionarin belatschert worden bin, finde ich das ersehnte Material, was auch die beiden Radlerinnen aus Kiel hatten. Jetzt steht einer Weiterfahrt ja wirklich nichts mehr im Weg.
Ich finde noch eine günstige Unterkunft über airbnb und setze mich erstmal in ein Cafe, um meine Beute zu studieren. Doch statt meinem check-in um 17 Uhr, erfahre ich, dass ich heute erst um 22:30 meine Unterkunft beziehen könnte, oh mann, es ist halb vier, sich so lange in der Stadt rumtreiben, da hab ich keine Lust zu und beschließe noch heute weiter zu fahren. Ich versuche wieder mein Glück mit den Radschildern, scheitere erneut, was aber nicht schlimm ist, so umgehe ich auch jetzt wieder eine Schotterpiste und fahre einene herrlichen Weg entlang der Küste, bevor ich meinen Campingplatz außerhalb von Kristiansand erreiche.
Liebe Steffi, allein das Lesen und Nachverfolgen der Entwicklungen vom Schreibtisch aus entschleunigt schon ein wenig. Es ist interessant, wie Du nach und nach zu neuen Sichtweisen findest. So sehr ich ja Unmengen von Kilometern mag, dieses „nach Genuss und Laune fahren“, das hat was! Da kommt sicher noch viel. Hab‘ weiterhin eine vergnügliche Tour!
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Danke Dir, Eva! Norwegen gestaltet sich wie die Landschaft, auf und ab, auch im Gemüt 😉
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